Große Ferien auf der Ziegelei - Erinnerungen eines Presskarrenschiebers
Im Zieglerboten des Jahres 2023 haben wir über die Lippischen Ziegler an der Este berichtet. Im neuen Zieglerboten, der im Dezember erscheint, stellen wir die Ziegeleiarbeit aus der Sicht eines Schülers dar, der 1951 auf der Städtischen Ziegelei in Lage gearbeitet hat. Die Eindrücke stammen von Dr. Reinhold Stechemesser, der viele Jahre an der damaligen Fachhochschule Lemgo gelehrt hat. Den vollständigen Text finden Sie hier, wenn Sie auf "weiterlesen" klicken. Die Lagenser Städtische Ziegelei lag an der Heidenschen Straße direkt gegenüber der Lippischen Hauptgenossenschaft. Es ist nicht die Ziegelei Beermann, aus der das Ziegeleimuseum entstanden ist. Dr. Reinhold Stechemesser schreibt in seinen Erinnerungen:
(Fotonachweis: Stadtarchiv Lage F 1634)
Veranstaltungen von Juli 2024 bis März 2025 - der aktuelle Veranstaltungskalender zum Download
In unserer Spalte Medien finden Sie ab sofort den aktuellen Veranstaltungskalender zum Lesen und Herunterladen. Der Kalender kommt nicht nur in einem neuen Erscheinungsbild daher, er enthält erstmals alle Veranstaltungen bis Ende März 2025. Symbole neben den Texten machen auf den ersten Blick deutlich, für welche Altersgruppen die einzelnen Veranstaltungen gedacht sind.
Große Ferien auf der Ziegelei
Im Jahre 1946 kamen wir (meine Eltern, meine beiden Brüder und ich) als Flüchtlinge nach Lage/Lippe. Mein Vater hatte Anfang der dreißiger Jahre am Lagenser „Technikum" studiert und die Prüfung als Ziegelei-Ingenieur abgelegt. Jetzt, nach dem Krieg, versuchte er, als selbständiger Ingenieur in der Region Fuß zu fassen, teils über den Vertrieb von Ziegelei-Maschinen, teils über die Projektierung von Anlagen. Manche der Ziegeleien, die damals noch zahlreich waren, kannte er schon aus früheren Jahren, zum Beispiel die Lagenser Städtische Ziegelei an der Heidenschen Straße direkt gegenüber der Lippischen Hauptgenossenschaft. Heute erinnert nichts mehr an sie, das Gelände ist mit Gewerbebetrieben und einigen Wohnhäusern überbaut. Auch die Tongrube jenseits der Eisenbahn ist verfüllt und überbaut.
Von Lage aus besuchte ich als Fahrschüler das Leopoldinum in Detmold. Als ich im Jahre 1951 Obersekundaner war (das ist heute die Klasse 11), hielten meine Eltern es für wichtig, dass ich in den großen Ferien vier Wochen lang arbeitete. Damals war Geld knapp, außerdem sollte ich harte Arbeit kennen lernen. Ich war nicht begeistert, aber auch nicht allzu widerspenstig, schließlich konnte ich mir später vom selbst verdienten Geld einen Anzug kaufen und einen Füllfederhalter mit Goldfeder.
Mein Vater hatte mit dem Pächter der Städtischen Ziegelei alles Nötige ausgemacht. Ich sollte kräftig arbeiten, aber nicht übermäßig angestrengt werden, also nicht etwa in den Ofen geschickt werden, sondern Presskarre schieben. Gearbeitet wurde von sieben bis 16 Uhr mit einer kurzen Frühstücks- und einer halbstündigen Mittagspause; samstags wurde bis zum Mittag gearbeitet - so viel wusste ich. An einem Montagmorgen fuhr ich auf einem alten Rad zum Betrieb. Der Meister erklärte mir kurz, was ich zu tun hatte, und los ging es. So simpel die Abläufe waren, ich brauchte doch einige Tage, bis ich mich wirklich auskannte (und auch merkte, wann ich angeschmiert werden sollte). Viel mehr Mühe machte es mir, mich an die Monotonie der Arbeit zu gewöhnen.
Die Lagenser Ziegelei bestand damals aus einem Maschinenhaus und einem Ring-Ofen, besaß jedoch keine Trockenanlage. Eine kleine Diesellok schleppte die mit Ton gefüllten Kipploren aus der Grube heran. Aufbau und maschinelle Einrichtung der Ziegelei will ich nicht im Einzelnen beschreiben - das kann man sich im Ziegelei-Museum in Hagen ansehen. Dort kann man auch beobachten, was die Maschinen aus dem rohen Ton machten: einen glatten Strang, der aus dem Mundstück der Presse quoll und vom Draht des Abschneiders in einzelnen Steine zerschnitten wurde. Die musste ein Arbeiter zu je dreien abnehmen (daher hieß er der „Abnehmer“) und auf die flache Presskarre setzen, insgesamt zehn Packen. Die Presskarrenschieber hatten ihre Karre rechtzeitig und an der richtigen Stelle vor den Abnahmetisch zu stellen und, wenn sie voll war, zum „Absetzer“ zu schieben. Der setzte die weichen Steine in einem Schuppen oder im Freien als „Hagen“ Reihe um Reihe neben und übereinander so locker ab, dass die Luft zwischen ihnen hindurch streichen konnte, die Reihen aber doch stabil standen. Derweil musste der Presskarrenschieber mit der leeren Karre des Vorgängers ins Pressenhaus zurück flitzen.
Nach zwei bis drei Wochen waren die Steine soweit getrocknet (und dabei hoffentlich nicht gerissen), dass sie wieder auf Karren gepackt und in den Ringofen geschoben werden konnten. Dort wurden sie gebrannt, nach dem Abkühlen ausgefahren und in großen Blöcken gestapelt oder mit einem kurzen Laufband direkt auf einen Lastwagen gekippt. Die Arbeit im Ofen war viel schwerer als die an der Presse, sie lief im Akkord und ganz und gar von Hand. Der Ringofen besteht bekanntlich aus einer langen Brennkammer, die wie ein Ring in sich geschlossen ist. Die Feuerzone wandert langsam in diesem Ring herum, geschürt und vorwärts gezogen durch Staubkohle,die von oben durch Schüttlöcher in die Kammer geschüttet wird. Einige Meter vor der Feuerzone werden die getrockneten Steine eingesetzt, hinter ihr die gebrannten Ziegel ausgefahren. Dort vor allem war es heiß und staubig. Eine Karre mit achtzig gebrannten Steinen im heißen Ofen aufzupacken und nach draußen zu schieben, hätte meine Kräfte überfordert. Dreißig Steine, auch wenn sie nass und dadurch schwer waren, auf einer Presskarre mit gut aufgepumptem Reifen zu bewegen, war leichter, aber noch anstrengend genug. Zwar arbeiteten wir im Maschinenhaus nicht im Akkord, doch unter Druck: die Maschinen gaben das Tempo vor.
Wenn der Ton trocken war, dann lief er langsam durch Koller, Walzwerk und Presse, so dass wir Zeit hatten für unsere Runde und obendrein ein oder zwei Minuten mit dem Absetzer schwatzen konnten; wenn das Thema noch nicht durch war, wurde bei der nächsten Tour der Faden weiter gesponnen. Aber bald merkte der Meister, dass zu langsam produziert wurde, dann ließ er Wasser in den Koller laufen, der Ton wurde dünner, der Strang schob sich schneller vorwärts, der Abschneider nickte verflucht rasch, der Abnehmer klatschte die Steine auf die Karre und kam trotzdem kaum mit. Alsbald erhob sich ein wütendes Geheul im Pressenhaus. Zu weit durfte der Meister es allerdings nicht treiben, weil dann die Steine nicht standfest waren und krumm wurden.
Meist wurden die Steine an zwei verschiedenen Stellen auf dem Gelände zum Trocknen aufgestellt. Dann mussten wir abwechselnd den einen oder den anderen Weg laufen. Wer nicht aufpasste und falsch lief, bekam Prügel vom Absetzer angedroht, denn der hatte die Karre des Vordermannes noch nicht leer und geriet jetzt ins Schwitzen. Der Absetzer konnte auch absichtlich bummeln, dann kam die leere Karre nicht rechtzeitig zur Presse zurück, wo der Abnehmer nicht wusste, wohin er die nachdrängenden Steine setzen sollte, weshalb er so brüllte und fluchte, dass der Meister aufmerksam wurde.Wurden Hagen nahe am Pressenhaus gesetzt, dann hätte das Leben für die Karrenschieber bequem sein können. Aber der Meister hatte Erfahrung, er schickte dann einen der Älteren in den Ofen. Statt zu fünft hatten wir dann zu viert zu laufen. Mussten wir jedoch wieder in die fernen Winkel weit entfernter Schuppen schieben, zögerte er gern, den fünften Mann dazu zu stellen. Dann musste wirklich getrabt werden, auch mit voller Karre.
Auf den festen und ebenen Wegen liefen die luftbereiften Karren leicht, sobald sie angeschoben waren. Aber sie mussten gut bepackt und ausbalanciert sein. Wenn sich der cholerische Abnehmer gerade wieder ärgerte, setzte er die Steine ungleichmäßig ab, haute dem, der nicht rasch genug weg war, vorne oder hinten noch einen Dreierpack drauf, und dann drückten die Karrengriffe nach oben oder hingen schwer an den Armen. Der Trab ging durch die Schuppen hindurch oder zwischen zwei Hagen entlang, mit scharfen Kurven dazwischen. Die konnten locker genommen werden. Einmal jedoch tauchte gleich hinter einer Biegung der Pächter auf. Ich wich aus und warf die Karre um, worauf er sehr bekümmert blickte: „Die schönen Steine!" Da er immer ein altes, grünliches Leinenjackett trug und gebückt ging, hielt ich ihn lange Zeit für jemanden, der nicht gerade reich war. Später änderte ich meine Meinung, als ich sein Haus gesehen hatte.
Unser Abnehmer geriet nicht nur leicht in Wut, er musste sich auch immer wieder am Rücken kratzen, es überkam ihn wie ein Anfall. Dann sprang er vom Abnahmetisch weg und scheuerte den Rücken an der Presse. Vom Abnahmetisch fielen die Steine auf die Karre oder auf den Boden, es gab wieder Anlass zu Gebrüll und wilden Androhungen. Anschließend mussten die Steine von uns nebenher aufgesucht und in die Presse geworfen werden. Zwischenfälle gab es immer wieder auch mit Rudi, einem großen, kräftigen jungen Recken. Er wohnte mit seiner Verlobten (diesen Status gibt es heute nicht mehr) in einer kleinen Baracke, die am Rande des Ziegelei-Geländes zur Heidenschen Straße hin stand. Die Verlobte habe ich nie zu sehen bekommen, so eifersüchtig hütete Rudi sie. Sagte jemand: „Rudi, ich glaube, bei euch ist jemand rein gegangen", dann ließ Rudi alles liegen und raste los. Minuten später kam er fuchsteufelswild zurück und drohte, den Hund zu erschlagen - aber der passte auf, dass er dem Tobenden ein Weilchen nicht begegnete. Am nächsten Tag klappte der Spaß schon wieder.
Montags, besonders nach einem Schützenfest, wurde viel mit den Erfolgen bei den Mädchen geprahlte. Da wollte dann auch ein Junge aus Heiden nicht zurückstehen, er trug besonders dick auf, was aber zu Nachfragen führte, die er nicht so recht beantworten konnte, worauf Hohngelächter ausbrach. Mir wurde anfangs schlankweg unterstellt, dass ich viel mit Mädchen poussiere – was tun die Schüler an der Oberschule sonst schon? In den Pausen wurde ich damit eifrig und derb gefoppt, wobei nach und nach zur allgemeinen Enttäuschung klar wurde, dass ich ziemlich harmlos war. Nur einer der beiden Absetzer (er stammte aus dem Ruhrgebiet und hieß genauso wie ein damals bekannter Torwart) fragte mich ein wenig danach aus, was ich in der Schule lerne. Für die Pausen gab es keinen Sozialraum. Bei Regen hockten wir auf einem aufgebockten Brett im Pressenhaus, bei trockenem Wetter auf einem der niedrigen Hagen im Freien.
Der Meister wollte ermitteln, wieviel produziert wurde. Er stellte ein Steckbrett ins Pressenhaus, und ich bekam den Auftrag, nach jeder Tour den Holzzapfen ein Loch weiter zu stecken. Bald war ich ganz durcheinander: ich hatte mir doch genau gemerkt, wo der Zapfen stak - jetzt saß er einige Löcher weiter. Sabotage! Die Kollegen wollten zeigen, wie wir gehetzt wurden. Dabei übertrieben sie jedoch so, dass es dem Meister erst merkwürdig vorkam, dann durchschaute er das Spiel und schiss uns alle enorm zusammen. Danach klappte das Zählen. Wenn alles gut und normal lief, kam jeder Presskarrenschieber auf 130 - 135 Touren täglich. Daraus schätze ich (bei fünf Karrenschiebern) die Produktion auf 2 Millionen Gittersteine jährlich.
Höhepunkt der Woche war der Freitag. Kurz vor Feierabend händigte der Meister den Lohn in einer Tüte aus, auf der auch die Abrechnung eingetragen war. Ich kam auf etwa 50 Mark. Manchmal standen einige Frauen da, um ihren Männern die Tüte sofort aus der Hand zu schnappen. Doch die waren gerissen: wenn die Frauen weg waren, griffen sie grinsend in die Hosentasche und holten einige Münzen heraus. Auf der anderen Seite der Heidenschen Straße, im Konsum der Hauptgenossenschaft, wurde dann eingekauft: ein Kranz Bienenstich (mit herrlicher Butterkreme) und Wermutwein, für 70 Pfennig direkt in die Flasche gefüllt. Bald danach ging die Streiterei los, manchmal entwickelte sich ein Geschubse und Gerangel daraus. Wenn dabei ein Hagen eingedrückt wurde, kam der Meister mit einer Latte in der Hand, sorgte für Frieden und zwang die Kampfhähne, die Steine wieder ordentlich zu setzen. Ich konnte mich nicht immer einfach verdrücken, also schmiss ich eine Runde Wermut, trank selbst davon und radelte beduselt durch die Stadt nach Hause.
Da die Karrenschieberei, sobald ich mich eingewöhnt hatte, doch sehr öde wurde, verfiel ich auf einen Zeitvertreib: im Laufen sagte ich stumm auf, was ich auswendig kannte. Nicht gerade den Katechismus und Gesangbuchverse (die ich einige Jahre vorher im Katechumenen- und Konfirmanden-Unterricht gepaukt hatte), sondern Gedichte und mathematische Formeln. Natürlich die Glocke und die Bürgschaft, auch die Harzreise im Winter, den Osterspaziergang, die Füße im Feuer und viele andere. Und die rund achtzig Formeln zur Trigonometrie kannte ich danach perfekt, was später recht vorteilhaft war. Doch im Laufe von Jahrzehnten ist das meiste nach und nach wieder aus dem Gedächtnis gerutscht.
In Unterprima (Klasse 12) arbeitete ich noch einmal während der großen Ferien auf der Lagenser Ziegelei. Ich traf dieselben Leute und tat dieselbe Arbeit. Ich ging wieder, die anderen mussten bleiben und Tag um Tag, Jahr um Jahr die schwere, eintönige Arbeit verrichten. Heute erinnere ich mich nicht ungern an jene Wochen, doch ich habe nicht vergessen, wieviel Gleichmut ich brauchte, um sie zu ertragen, und wie ich die Tage zählte, die mir noch bevorstanden.
Zu den Fotos:
Oben rechts: Die Lagenser Städtische Ziegelei, Fotonachweis - Stadtarchiv Lage F 1634
Mitte links: Der Abschneider teilt den Tonstrang in einzelne Steine, Foto - Böhmer-Schmidtpott
Mitte rechts: Die harte Arbeit im Ofen, Foto - LWL
Unten links: So sieht eine Presskarre aus, Foto - Böhmer-Schmidtpott